Seminar „Folk Law“ versus staatliches Recht SS 2007
Koloniale Rechtsvorstellungen und kolonialer Rechtstransfer in Indien 1. Einleitung und Fragestellung Im Zuge der voranschreitenden Kolonialisierung Indiens im 18. Jahrhundert musste sich die
britische Kolonialmacht notgedrungen mit der Thematik der Rechtsanwendung in Indien und
damit auch mit dem traditionellen indischen Recht1 auseinandersetzen. In Indien trafen die
Engländer auf ein äusserst komplexes und pluralistisches Rechtssystem, das dem
angelsächsischen Common Law sehr unähnlich war. Dementsprechend grosse Mühe
bekundeten sie beim Versuch, das indische Rechtssystem zu verstehen und in der Praxis
anzuwenden. Sie konnten Indien aber auch nicht einfach ohne weiteres ihr eigenes Recht
überstülpen, da das Common Law grösstenteils bis heute auf unkodifiziertem Recht beruht.
Wie gingen die britischen Kolonialherren mit dieser Problematik um, welche Vorstellungen
bezüglich der Rechtsanwendung in Indien vertraten sie?
Das vorliegende Essay greift diese Thematik auf und befasst sich mit dem kolonialen
Rechtstransfer der Briten in Indien. Dabei soll untersucht werden, welche Rechtskonzepte
und Rechtsvorstellungen die englischen Kolonialherren in Indien vertraten, und welche Ideen
verwirklicht wurden. Weiter wird der Frage nachgegangen, welche Rechtsfelder am stärksten
von modernen2 Rechtsvorstellungen beeinflusst wurden, und welche weiterhin primär
gemäss vorkolonialem indischem Recht gehandhabt wurden.
2. Angelsächsisches Common Law und traditionelles indisches Recht
Bevor auf die eigentliche Fragestellung eingegangen werden soll, müssen zuerst zwei in
meinen Augen wichtige Punkte angeschnitten werden: Das angelsächsische Common Law
einerseits und das traditionelle indische Recht andererseits.
1 Der Begriff des traditionellen indischen Rechts umfasst sowohl muslimisches, hinduistisches als auch
Gewohnheitsrecht und bildet in sich keine Einheit. Dennoch soll hier der Einfachheit halber diese Bezeichnung gebraucht werden. Eingehender betracht wird das traditionelle indische Recht auf Seite zwei.
2 David Skuy (1998: 513-555) weist darauf hin, dass das britische Rechtssystem der Kolonialzeit gemäss
heutigen Massstäben kaum als modern bezeichnet werden kann. Beispielsweise dominierte im britischen Kriminalrecht zu jener Zeit der „Bloody Code“, wonach auch kleinste kriminelle Vergehen, wie etwa ein Ladendiebstahl, mit dem Tod bestraft werden sollten. Ausserdem ist es bis heute ein Merkmal des Common Law, dass das Recht nur sehr spärlich kodifiziert ist, was im Widerspruch zur angestrebten Vereinheitlichung und Kodifizierung gewisser Rechtsbereiche in Indien steht. Skuy bezweifelt, ob das Common Law zu jener Zeit moderner war als das traditionelle indische Recht. Diese Frage bleibt offen, da bis heute sehr wenig wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über das vorkoloniale indische Rechtssystem vorhanden sind, was einen Vergleich der beiden Rechtssysteme erst ermöglichen würde. Trotz dieser, meines Erachtens berechtigten, Zweifel an der Modernität des britischen Rechtssystems im 18./19. Jahrhundert soll im vorliegenden Essay der Begriff des modernen Rechts verwendet werden. Modernes Recht wird dabei nicht automatisch mit britischem Recht gleichgesetzt. Unter modernem Recht verstehe ich im Folgenden staatliches, kodifiziertes und vereinheitlichtes Recht.
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2.1. Das angelsächsische Common Law
Zuerst ist es meines Erachtens notwendig, das britische Rechtssystem näher zu betrachten.
Denn das angelsächsische Common Law unterscheidet sich von kontinentaleuropäischen
Rechtssystemen in wesentlichen Punkten. Während kontinentaleuropäische Rechtssysteme
hauptsächlich auf kodifiziertem Recht beruhen, und die Rechtssprechung somit vor allem
Auslegung von Gesetzen bedeutet, basiert das angelsächsische Rechtssystem, das
Common Law, auf Case Law. Das Recht ist in den angelsächsischen Ländern nur spärlich
kodifiziert, so besitzt Grossbritannien erstaunlicherweise bis heute keine eigentliche
Verfassung. Im angelsächsischen Rechtssystem schafft erst die Rechtssprechung Recht,
Gerichtsentscheide werden somit zu Gesetzen (Séroussi 1994: 1-4). Das Case Law ist
zudem gegen unten offen, wodurch auch Bräuche und Sitten zu Gesetzen werden können.
Durch diese unterschiedlichen Rechtssysteme und unterschiedlichen Rechtsauffassungen ist
es im Kontext der Kolonialisierung auch zu einem unterschiedlichen Rechtstransfer in den
angelsächsisch dominierten Ländern und in den kontinentaleuropäisch beherrschten
Kolonien gekommen. Während kontinentaleuropäische Länder, wie beispielsweise
Frankreich, den Kolonien schlichtweg ihr eigenes Gesetz überstülpten, und dem
traditionellen Gewohnheitsrecht generell wenig Platz einräumten3, suchte Grossbritannien
aufgrund seines Rechtsverständnisses vermehrt nach den eigentlichen Bräuchen der
jeweiligen Einwohner, dem Gewohnheitsrecht wurde tendenziell ein höherer Stellenwert
zugeschrieben. In englischen Kolonien fand daher selten ein direkter Rechtstransfer statt,
meistens kam es zu einer Durchmischung von britischem und traditionellem Recht.
Dieser Aspekt des indirekten Rechtstransfers ist für das vorliegende Essay von grosser
Bedeutung, da auch in Indien nicht einfach britisches Recht übernommen wurde, sondern
nach anderen Möglichkeiten der Rechtsanwendung gesucht wurde.
2.2. Das traditionelle indische Recht
Zweitens ist es meiner Meinung nach ebenso aufschlussreich, das vorkoloniale indische
Rechtssystem kurz zu beleuchten. Das indische Rechtssystem war schon vor der
Kolonialzeit sehr pluralistisch und komplex, von einem homogenen System kann keinesfalls
gesprochen werden. Dieses traditionelle Rechtssystem wurde bis heute noch nicht
ausreichend erforscht und allgemein liegen sehr wenig wissenschaftlich fundierte
Erkenntnisse darüber vor (Skuy 1998: 514).
3 Dabei muss allerdings angefügt werden, dass die angestrebte Durchsetzung eines einheitlichen Rechtssystems
in den kontinentaleuropäischen Kolonien oftmals mit immensen Schwierigkeiten verbunden war. Vor allem auf dem Land wurde vielfach entgegen den kolonialen Vorstellungen Gewohnheitsrecht durchgesetzt, während in den Städten der Rechtstransfer direkter verlief und einfacher zu bewerkstelligen war. Somit herrschte auch in kontinentaleuropäischen Kolonien in der Praxis häufig ein duales Rechtssystem, obwohl die offiziellen Vorstellungen der jeweiligen Kolonialregierungen anders aussahen.
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Sehr vereinfachend lässt sich festhalten, dass sich die Hindus und die Muslime auf
unterschiedliche Rechtssysteme beriefen, die Muslime stützen sich auf die Scharia, die
Hindus auf sakral-religiöse Texte, die Dharmashastras, diese beschrieben das
rechtschaffene Leben. Das Ziel des hinduistischen Rechtssystems war es, die
Dharmashastras aufrechtzuerhalten, somit kam dem traditionellen Hindurecht auch eine
strukturbewahrende Funktion zu. Doch sowohl das hinduistische wie auch das muslimische
System waren in sich pluralistisch und stützten sich nicht nur auf Texte, sondern standen
ganz im Gegenteil in reger Verbindung mit Gewohnheitsrecht, welchem in der Praxis oftmals
der Vorzug gegeben wurde (Jain 1994: 52-54).
Das ursprüngliche hinduistische Recht, das auf den Dharmashastras basiert, ist heute
grösstenteils verschwunden und unbedeutend (Galanter 1972: 53). Dennoch übt dieses
traditionelle Recht nach wie vor Einfluss aus, wenn auch indirekt. Khare (1972: 75) betont,
dass die Hindus bis heute zwischen dem traditionellen Recht der Dharmashastras, das
gottgegeben, voraussagbar und unveränderlich ist und dem kodifizierten staatlichen Recht,
das als fremd und profan gilt, als weltlich, manipulativ und von Menschenhand gemacht,
unterscheiden. Khare (1972: 76) vertritt die Ansicht, dass diese beiden Rechtssysteme
miteinander in Verbindung stehen und keinesfalls isoliert sind. Denn das kosmische Recht
erklärt nach hinduistischer Auffassung vielfach das Scheitern des weltlichen Rechts.
Im folgenden Abschnitt soll es nun um die eigentliche Beantwortung der Fragestellung
gehen. Welche Rechtskonzepte vertraten die Briten in Indien, welche Rechtsbereiche
wurden besonders von modernen Rechtsvorstellungen geprägt, welche konnten weiterhin
gemäss traditionellen Auffassungen funktionieren?
3. Britische Rechtskonzepte
Cornelius van Vollenhoven (1994: 251-262) zufolge gab es im Wesentlichen drei Personen,
deren Ansichten den Umgang der Briten mit Recht in Indien bestimmt haben und die grossen
Einfluss auf die Gestaltung des indischen Rechts im kolonialen Kontext gehabt haben:
Warren Hastings, Mountstuart Elphinstone und Thomas Babington Macaulay.
3.1. Warren Hastings und das Adalat System
Warren Hastings wurde 1772 zum Gouverneur von Bengalen ernannt. Ein Jahr später stieg
er zum ersten Generalgouverneur von Ostindien auf (1994: 256). Hastings arbeitete
ausschliesslich in Gegenden, die bei seiner Ankunft schon stark von kolonialem Einfluss
gekennzeichnet waren, unter anderem in Bengalen, Madras und Assam. Die Arbeit in diesen
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Gegenden sollten auch seine Ansichten bezüglich der Rechtsdurchsetzung in Indien
1772 rief Hastings das so genannte Adalat System in Bengalen, Bihar und Orissa ins Leben
(Jain 1994: 55). Das Adalat System sollte folgendermassen funktionieren: „That in all Suits regarding Inheritance, Marriage, Caste and other religious Usages or Institutions, the Laws of the Koran with respect to Mahometans and those of the Shaster with respect to Gentoos shall be invariably adhered to“ (Rocher 1972: 419). Für Muslime sollte also muslimisches
Recht, für Hindus hinduistisches Recht gelten, allerdings bezog sich dieser Regelung nur auf
bestimmte Rechtsbereiche wie Heiratsrecht, Erbrecht, Kastenfragen oder religiöse
Angesichts der Komplexität des traditionellen indischen Rechtssystems erscheint es
offensichtlich, dass diese Rechtsauffassung von Warren Hastings der indischen
Rechtssituation nicht gerecht werden konnte. Denn das Gewohnheitsrecht unterschiedlicher
Gruppen, Lineages oder Familien fand unter Hastings keine Beachtung. Jain (1994: 55)
umschreibt diese Problematik wie folgt: „Warren Hastings had supposed that the Hindus and Muslims were governed by their religious texts; he failed to appreciate that more than these texts, the local and personal usages had come to play an important role in the lives of the people.” Nichtsdestotrotz wurden Hastings Rechtsansichten für weite Teile Indiens
übernommen und angewendet, vor allem in den Regionen Bengalen, Assam, Agra und
Madras (Van Vollenhoven 1994: 256, 257).
3.2. Mountstuart Elphinstone und das Gewohnheitsrecht
Mountstuart Elphinstone war ein britischer Offizier, der hauptsächlich in abgelegenen
Gegenden Zentralindiens und Afghanistans arbeitete, wo das Leben der Indigenen zu jener
Zeit noch relativ unberührt von äusseren, kolonialen Einflüssen ablief. Die Arbeit in diesen
Regionen ermöglichte ihm, im Gegensatz zu Warren Hastings, einen differenzierteren
Einblick in das traditionelle indische Rechtssystem zu erhalten (1994: 252, 253).
Anders als Hastings erkannte Elphinstone, dass das vorkoloniale hinduistische Recht nicht
ausschliesslich auf sakralen Texten, sondern weitgehend auf Bräuchen und dem Urteil der
Könige fusste. So vertrat Elphinstone die Meinung, die britische Regierung müsse dieses
ursprüngliche Gewohnheitsrecht respektieren und solle keine Änderungen des traditionellen
Rechtssystems vornehmen, wie dies in anderen Regionen, beispielsweise in Bengalen unter
Warren Hastings, geschehen war (1994: 254).
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Von 1819-1827 amtierte Elphinstone als Gouverneur von Bombay. Während seiner Amtszeit
setze er sich stark für die Beibehaltung des traditionellen Gewohnheitsrechts ein. Er verfolgt
dabei zwei Ziele: Zum einen wollte er das Gewohnheitsrecht erforschen und aufzeichnen,
zum anderen aber auch ein Gesetz für dessen Anwendung entwerfen und erlassen (1994:
254). Am ersten Ziel scheiterte Elphinstone, es gelang ihm nicht, das vorkoloniale
Gewohnheitsrecht ausreichend zu erfassen, was angesichts der Komplexität des
traditionellen indischen Rechts auch leicht nachvollziehbar ist. Das zweite Vorhaben
Elphinstones hingegen war von Erfolg gekrönt. Im Elphinstone Code, der 1827 erlassen
wurde, wurde festgehalten, dass das indische Gewohnheitsrecht in der Provinz Bombay
vorherrschen sollte (1994: 255). 1827 verliess Elphinstone Indien, doch seine Ansichten
wirkten weiter: Gewohnheitsrechtliche Auffassungen dominierten auch im Punjab Law Act
von 1872, im Central Provinces Laws Act von 1875 und im Oudh Law Act von 1876. In
diesen Regionen behält das Gewohnheitsrecht bis heute eine sehr wichtige Stellung bei
3.3. Thomas Babington Macaulay und die Kodifzierung und Vereinheitlichung des indischen Rechts
Eine dritte Ansicht vertrat Thomas Babington Macaulay. Er kam 1834 mit dem Auftrag des
britischen Parlaments nach Indien, ein einheitliches Kriminalrecht für Indien zu erlassen
(Skuy 1998: 516). Schon vor seiner Abreise hatte er die Prinzipien formuliert, nach denen
das Kriminalrecht seiner Ansicht nach gestaltet sein sollte: „The principle is simply this; uniformity when you can have it; diversity when you must have it, but in all cases certainty“
Macaulay war der indischen Lebensweise von Anfang an abgeneigt, er sehnte sich während
seines gesamten Indienaufenthalts danach, nach England zurückzukehren. Thomas
Babington Macaulay war ein typischer Vertreter von nationalistischem Gedankengut, der von
der Überlegenheit der europäischen und vor allem der britischen Lebensweise über die so
bezeichnete „orientalische“ Lebensweise überzeugt war. Dementsprechend wenig setzte er
sich mit Indien und seiner Bevölkerung auseinander, was sich auch in seinen Vorstellungen
bezüglich des indischen Kriminalrechts niederschlug. Seiner Ansicht nach sollte das Recht in
Indien vereinheitlicht und kodifiziert werden, den traditionellen indischen Rechtsformen
schenkte er keine Beachtung (Van Vollenhoven 1994: 257, 258).
Macaulay war zudem der festen Überzeugung, dass dieses Vorhaben der Vereinheitlichung
und Kodifizierung des indischen Rechts ein Kinderspiel sei: “I believe that no country ever
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stood so much in need of a code of laws as India; and I believe also that there never was a country in which the want might so easily be supplied” (1994: 258).
Diese eurozentristische Haltung unterstreicht, wie wenig sich Macaulay tatsächlich mit Indien
und seinem Rechtssystem auseinandergesetzt hat. Nach dem so genannten grossen
indischen Aufstand4 im Jahr 1857 erliess Macaulay noch im selben Jahr ein systematisches
Kriminalrecht für Indien (1994: 258). Ein Teil davon, der Indian Penal Code, wurde später
auch in anderen britischen Kolonien angewandt, unter anderem in Singapur, Sri Lanka und
4. Rechtsfelder
Es stellt sich im Folgenden die Frage, ob alle Rechtsfelder gleichermassen von modernen
Rechtsvorstellungen geprägt wurden, oder ob Unterschiede je nach Rechtsbereichen
Es ist augenfällig, dass nicht alle Rechtsfelder in gleichem Ausmass von modernen
Rechtsvorstellungen durchzogen wurden, einige Rechtsfelder blieben sogar relativ unberührt
vom kolonialen Einfluss. Als eines der ersten Rechtsfelder wurde das Kriminalrecht5
vereinheitlicht und kodifiziert, Macaulay war einzig mit diesem Auftrag nach Indien gereist.
1862 wurde der Indian Penal Code, der nach seinen Vorstellungen gestaltet worden war,
erlassen (Skuy 1998: 513). Innerhalb von nur zwei Dekaden waren grosse Teile des
indischen Rechts verschriftlicht worden, so waren 1882 das Handels- und Wirtschaftsrecht,
das Kriminalrecht und das Prozessrecht in Indien vollständig festgeschrieben und
vereinheitlicht (1998: 513). In diesen kodifizierten Rechtsbereichen fand das traditionelle
vorkoloniale Recht Indiens wenig Berücksichtigung: „Hindu and Muslim law was rarely included in these Indian law codes, so the entire codification process represented the transplantation of English law to India, complete with lawyers and judges“ (1998: 513).
4 Der grosse Aufstand von 1857 stellt eine der grossen Zäsuren in der neueren indischen Geschichte dar. Die
Rebellion von Händlern, Bauern und Soldaten gegen die britische Fremdherrschaft wird von einigen Historikern sogar als erster Unabhängigkeitskrieg dargestellt. Den Aufständigen ging es vor allem darum, den Fortbestand des Mogul-Reiches zu sichern. Die Ursachen der Rebellion sind hauptsächlich in der sozialen Deprivation, in den rückständigen politischen Institutionen und einer zunehmenden religiösen „Überfremdung“ zu suchen. Der grosse Aufstand von 1857 blieb jedoch erfolglos und wurde von den Briten blutig niedergeschlagen (Mann 2005: 100-104).
5 Es drängt sich die Frage auf, warum gerade das Kriminalrecht als erster Rechtsbereich vereinheitlicht werden
sollte. Skuy (1998: 525) ist der Ansicht, dass die Briten aus innenpolitischen Gründen zuerst das Kriminalrecht vereinheitlichen und kodifizieren wollten. Denn das englische Kriminalrecht stand in jener Zeit unter einem enormen Reformdruck. In England herrschte damals der so genannte „Bloody Code“, wonach praktisch alle kleineren kriminellen Vergehen mit dem Tod bestraft werden sollten, was in der Realität allerdings selten getan wurde, nur wenige zum Tod Verurteilte wurden tatsächlich hingerichtet. So gingen viele Elemente des Indian Penal Code auf einen langen innenpolitischen Prozess in Grossbritannien zurück, der das Ziel verfolgte, das britische Kriminalrecht zu reformieren (1998: 525, 526).
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Doch nicht alle Rechtsbereiche unterlagen britischen Rechtsvorstellungen. Rechtsfelder, die
das Heiratsrecht, Familienrecht, Verwandtschaftsrecht oder die Religion betrafen, konnten
ihre Eigenständigkeit weitgehend bewahren und weiterhin nach traditionellen
Rechtsvorstellungen gehandhabt werden. Khare (1972: 85) fast die Situation treffend
zusammen: „In general, we can say that the institutions of marriage, family, kinship, and religion are comparatively more insulated from lawyer’s law than are economic and political relations, although contexts and modernization are important controlling factors.”
Es scheint, als hätten die Briten vor allem diejenigen Rechtsbereiche kodifiziert und
vereinheitlicht, die für sie von grosser ökonomischer Bedeutung und Wichtigkeit waren, wie
etwa das Handelsrecht. Rechtsbereiche, die eher den privaten Bereich betrafen, konnten
tendenziell eigenständig und unabhängig gemäss traditionellen Vorstellungen weiter
Eine andere Problematik stellt die Akzeptanz des staatlichen Rechts in der indischen
Bevölkerung dar. Khare (1972: 85) weist darauf hin, dass die Inder in Rechtsbreichen,
welche die Heirat, die Familie oder die Verwandtschaftsbeziehungen betreffen, aus Gründen
des Sozialprestiges nur ungern von staatlichem Recht Gebrauch machen. In diesen
Rechtsbereichen bedeute der Gang zu den staatlichen Behörden eine soziale Schande, vor
allem für Familien, die einer höheren Kaste angehörten: „In marriage, family, and kinship, the use of lawyer’s law is generally a social disgrace for higher caste families: ‚it is avoided at all costs’, according to my informants of this category, ‚because it has subtle implications for our social prestige’” (1972: 85).Familien aus unteren Kasten hingegen hätten weniger Skrupel,
das staatliche Recht auch in diesen eher privaten Rechtsfeldern für sich in Anspruch zu
Das vorliegende Essay beschäftigte sich einerseits mit der Frage, welche Vorstellungen die
britischen Kolonialherren in Indien bezüglich der Rechtsanwendung und des Rechtstransfers
vertreten haben. Andererseits sollte auch untersucht werden, ob moderne
Rechtsvorstellungen in allen Rechtsfeldern gleichermassen eingeflossen sind, oder ob
Unterschiede je nach Rechtsgebieten feststellbar sind.
Hinsichtlich der britischen Rechtsvorstellungen in Indien lässt sich festhalten, dass es im
Wesentlichen drei verschiedene Auffassungen der Kolonialherren gab, wie Recht auf dem
Subkontinent gehandhabt werden sollte. Warren Hastings vertrat eine erste Position, wonach
das Rechtssystem nach religiösen Gesichtspunkten gestaltet werden sollte. Er initiierte das
Adalat System; demzufolge sollte hinduistisches Recht für Hindus und muslimisches Recht
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für Muslime gelten. Allerdings bezog sich diese Bestimmung nur auf bestimmte
Rechtsbereiche wie Erbrecht, Heiratsrecht, Kastenfragen oder Religion. Mountstuart
Elphinstone verfocht eine andere Ansicht. Er meinte, das Gewohnheitsrecht müsse die
dominante Rechtsquelle sein, dementsprechend viel Wert legte Elphinstone auf die
Erforschung von Bräuchen. Eine Bemühung, die allerdings, angesichts der Komplexität des
indischen Gewohnheitsrechts, zum Scheitern verurteilt war. Thomas Babington Macaulay
vertrat einen dritten Standpunkt. Macaulay zufolge sollte das indische Rechtssystem
vereinheitlicht und kodifiziert werden und auf modernen Rechtsstandards basieren.6 Der
erste Rechtsbereich, der in Indien vereinheitlicht wurde, war das Kriminalrecht, 1862 wurde
Auffällig ist, dass die Briten nicht alle Rechtsbereiche vereinheitlicht, kodifiziert und nach
modernen Rechtsvorstellungen gehandhabt haben. Während das Kriminalrecht sowie das
Handels- und Wirtschaftsrecht Ende der 1880er Jahre vollständig kodifiziert und
vereinheitlicht waren, konnten traditionelle Auffassungen in anderen Rechtbereichen weiter
bestehen, unter anderem im Familienrecht, im Erbrecht, im Heiratsrecht oder in Bereichen,
welche die Verwandtschaftsbeziehungen oder die Religion betrafen.
Abschliessend lässt sich festhalten, dass sich das jetzige indische Rechtssystem genauso
wie das vorkoloniale traditionelle Rechtssystem sehr komplex und ausgesprochen
pluralistisch gestaltet. Im heutigen Indien wird Recht je nach Region, politischer Ebene und
in gewissen Fällen auch nach Religion unterschiedlich gehandhabt. So sieht das Familien-
und Erbrecht beispielsweise eigene Regelungen für Hindus und für Muslime vor. Der Hindu
Marriage Act gilt dabei gleichzeitig für Sikkhs und Buddhisten. Aber auch Bräuche können
rechtlich kodifiziert werden. Zudem wird auf der dörflichen Ebene dem nationalen Recht oft
wenig Beachtung geschenkt, das traditionelle Gewohnheitsrecht hat meistens mehr Gewicht.
Heute finden sich in Indien also alle drei erläuterten Rechtsauffassungen wieder: Religiös
getrenntes Recht, Gewohnheitsrecht und kodifiziertes, staatliches Recht. Rechte
unterschiedlicher Art existieren auf dem Subkontinent nebeneinander, das indische
Rechtssystem ist und bleibt äusserst pluralistisch und für aussenstehende Beobachter sehr
6 Hier soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass das britische Common Law zu jener Zeit diesen
Ansprüchen Macaulays selber keinesfalls gerecht werden konnte und weit davon entfernt war, modern oder einheitlich im heutigen Sinne zu sein.
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